Die neue Regierung:
Die Entscheidung fällt in der Sozial- und Steuerpolitik

Die neue Regierung, gebildet aus einer Rot/Grünen-Koalition, ist unter dem Motto "Mehr Arbeit für Deutschland" und "Schließen der Gerechtigkeitslücke" angetreten.

Hierbei sollen die milden Reformen, die von der alten CDU/CSU/FDP-Koalition in der letzten Legislaturperiode vorgenommen wurden, rückgängig gemacht werden. Die Steuerreform der alten Koalition war schon an der Bundesratsmehrheit der SPD-regierten Länder gescheitert. Nun wird die Rücknahme dieser oberflächlichen Kratzer am "sozialen Netz" der Regierung Kohls zwar die betroffenen Bundesbürger erfreuen - eigentlich steckt aber nur das Einlösen von Wahlversprechen dahinter, also die Bedienung des eigenen Wählerklientels. Doch, so scheint es, wieder einmal machen Sozialisten die Rechnung ohne den Wirt; denn wer das alles bezahlen soll, bleibt zunächst unausgesprochen.

In den Lafontain'schen Vorschlägen zur Steuerpolitik wird die Umverteilung von oben nach unten durch den Mittelstand bezahlt. Aber wer begleicht die Rechnung in der Sozialpolitik? Sollen es wieder einmal die Leistungsanbieter sein?

Und schon sind wir bei dem eigentlichen Problem der kommenden Jahre. Wie können Steuer- und Sozialpolitik so umgestaltet werden, daß in Deutschland die Arbeitslosigkeit zurückgedrängt wird? Um dieses Ziel zu erreichen, muß sehr viel mehr geschehen, als diese neue Regierung offensichtlich bereit ist zu leisten. Sieht man sich einmal das an, was bisher die Regierung geleistet hat, so kann es nur heißen: Bisher ist alles hin und her und kreuz und quer, aber im Grunde genommen nur rückschreitend erfolgt. Alles, was die Regierung Kohl unter der Überschrift "Standortsicherung" verwirklicht hat, hat die Regierung Schröder auf vielfachen Wunsch der Wähler beseitigt: Ihr Streben zielt auf die Sicherung des eigenen Erfolgs, und sie kann dabei auf die Übereinstimmung mit dem Mehrheitswillen verweisen. Die Behauptung des Bundesarbeitsministers, die schwerwiegenden sozialen Einschnitte hätten keine neuen Arbeitsplätze gebracht, ist natürlich eine glatte Lüge und nur als Propaganda zu werten.

Die einst weitgehend vom Industriezeitalter mit standardisierten Arbeitsverhältnissen geprägten Systeme sozialer Sicherung bismarckscher Prägung müssen sich ebenso den neuen Herausforderungen und Konsequenzen der modernen Globalisierung der Wirtschaft anpassen, wie die herrschenden Arbeitsmarktregime. So wirkt sich der Anpassungsdruck durch die Modernisierung und Globalisierung vornehmlich auf die Arbeitswelt und Sozialpolitik aus. Abgaben auf Löhne und Gehälter bilden wegen der noch sehr engen Verzahnung eine wesentliche Grundlage für die Finanzierung der sozialen Sicherung. Dadurch geraten steigende Lohnkosten immer mehr zu einem Standortnachteil. Dies wiederum führt notwendigerweise zu Beschäftigungsproblemen. Die Folge sind ansteigende Kosten der Sozialsysteme. Die Kosten der Arbeitslosigkeit treiben die Kosten der Arbeitslosenversicherung in die Höhe. In der Rentenversicherung verursachen steigende Arbeitslosigkeit zugleich steigende Einnahmeausfälle. Ein Circulus vitiosus, der dringend unterbrochen werden muß. Leider macht bisher die jetzige Regierung nicht den Eindruck, entschlossen und mutig die grundsätzlichen Probleme in der Steuer- und Sozialpolitik anzupacken, ohne die Grundpfeiler der Bundesrepublik Deutschland als ein demokratischer und sozialer Rechtsstaat zu gefährden.

Die Sozialpolitik setzt sich demgemäß im engeren Sinne aus folgenden Systemen zusammen:
- Gesundheitswesen, Krankenversicherung und Krankengeld
- Rentenversicherung
- Unfallversicherung
- Arbeitslosenversicherung
- Pflegeversicherung
- Sozialhilfe.

Zu den weiterführenden Aufgaben der Sozialpolitik sind zu rechnen:
- Familienlastenausgleich
- Förderung der Vermögensbildung
- Arbeits- und Tarifrecht
- Förderung der Arbeitsqualifizierung
- Arbeitsmarktpolitik.

Dieser staatlichen Regulierungswut und den Zwangssystemen sind die Worte von Ludwig Erhard entgegenzustellen: "Und wenn einer meint, daß soziale Politik bedeutsamer, gewichtiger und gegenüber der Wirtschaftspolitik, deren Erfolge oder Mißerfolge allein die Effizienz der sozialen Leistungen bestimmen, gar noch vorrangig wäre, dann protestiere ich mit Entschiedenheit. Soziale Leistungen schöpfen nur aus einer Quelle: das ist die Arbeit unseres Volkes in einer freien Wirtschaft und Gesellschaft. Sie allein setzt Qualität und Quantität des sozialen Standards."

Wie weit hat sich die Bundesrepublik Deutschland von diesen Erhard'schen Erkenntnissen entfernt!

In Deutschland stützt die gesetzliche Sozialversicherung nahezu jeden Bürger gegen die meisten Lebensrisiken ab. Sie ist Pflichtversicherung für Arbeiter und Angestellte bis zu einer Höchstgrenze des monatlichen Gehaltes, die auch gleichzeitig die Grenze der Beitragsbemessung darstellt. Zahlen müssen Arbeitnehmer und Arbeitgeber je zur Hälfte. Nur die Unfallversicherung - Berufsgenossenschaft - wird von den Arbeitgebern allein getragen. Die Kosten der Arbeitslosenhilfe trägt der Staat, die Sozialhilfe die Kommunen. Die gesetzliche Sozialversicherung arbeitet nach dem Umlageverfahren, die Ausgaben eines

Jahres sind aus den Einnahmen desselben Jahres zu bestreiten. Insbesondere die Rentenversicherung muß mittlerweile schon massiv vom Staat finanziell unterstützt werden.

Die Versicherungsträger selbst sind Körperschaften Öffentlichen Rechts, damit unterliegen sie staatlicher Aufsicht und Willkür; siehe Gesetzliche Krankenversicherung!

Die Eckpfeiler dieses Systems sind
1. Gesundheitswesen - Krankenversicherung mit Krankengeld, Mutterschaftsgeld und Sterbegeld
2. Rentenversicherung: mit Altersrente, Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrente und Hinterbliebenenrenten.

Generationenvertrag
Grundlage für die Verteilung der Leistungen ist der fiktive Generationenvertrag, nachdem die jeweils Erwerbstätigen die Renten der Älteren bezahlen.
Versicherungsprinzip
Es erhält nur derjenige eine Rente, der zuvor entsprechende Beiträge bezahlt hat. Dazu kommt eine Wartezeit auf die Anwartschaft und das Erreichen einer definierten Altersgrenze.
Solidarprinzip
Die Rente wird, als Element der Umverteilung, durch "Maßnahmen des sozialen Ausgleichs" aufgebessert, z.B. Ersatzzeiten für Wehrdienst, Flucht und Vertreibung, Kindererziehungszeiten.
Äquivalenzprinzip
Die Rente entspricht der individuellen Lebensleistung. Zahl und Höhe der Beiträge des Versicherten.
Rentendynamik
Die jährliche Anpassung der Renten: Seit 1992 an die Nettolöhne angepaßt.
Unfallversicherung
Die Arbeitgeber tragen alleine die Kosten für Arbeitsunfälle, Wegeunfälle, Berufskrankheiten und Prävention in den Betrieben. Die Ausgaben betrugen 1997 rund 24 Milliarden DM.
Arbeitslosenversicherung
Die Bundesanstalt für Arbeit hat ähnlich wie die Berufsgenossenschaften sowohl eine Versicherungsfunktion (Arbeitslosengeld) als auch präventive Aufgaben, damit die Arbeitslosigkeit erst gar nicht entsteht.
Pflegeversicherung
Es werden Sach- und Geldleistungen angeboten. Die Leistungen werden vermögensunabhängig gewährt. Die Pflegebedürftigkeit wird durch einen Gutachter festgelegt.
Sozialhilfe
Sie ist keine Lohnersatzleistung sondern vom Einkommen und Vermögen abhängig. Sozialhilfe soll das Entstehen von Armut verhindern, eigentlich ist sie als Hilfe zur Selbsthilfe gedacht und nicht als Hängematte für Arbeitsunwillige. 25 % aller Empfänger sind Ausländer. Die Aufwendungen werden von den Kommunen bezahlt.

Fazit: Deutschland hat sich einen äußerst großzügigen Ausbau des Sozialstaates erlaubt. Immer mehr Geld muß für die sozialen Zwecke ausgegeben werden. Dabei sind die Leistungsverpflichtungen auf immer neue Bereiche ausgedehnt worden:
- Mutterschaftsgeld in der Krankenversicherung
- Anerkennung von Ausbildungszeiten in der Rentenversicherung
- Finanzierung des vorgezogenen Ruhestandes in der Arbeitslosenversicherung
- Pflegeversicherung als neuer Zweig.

Auch die direkt vom Staat finanzierte Sozialpolitik hat das Füllhorn weiter vergrößert:
- Erziehungsgeld
- Altershilfe für Landwirte
- Kinder- und Wohngeld in der Sozialhilfe.

Ergänzt wird das Ganze noch durch die finanziellen Zuwendungen der Unternehmen:
- 100%ige Lohnfortzahlung im Krankheitsfall
- betriebliche Altersversorgung.

Nicht nur die Grundrisiken sind abgedeckt, sondern eine Vielzahl von Extras sorgen für ein besonders gepolstertes Nest. Den letzten fängt dann die Sozialhilfe auf.

Hinzu kommt, für manche Bezieher von Sozialhilfe lohnt es kaum, einer Beschäftigung nachzugehen - insbesondere bei Haushalten mit mehreren Personen. Denn Sozialhilfe, Zuschläge und Wohngeld zusammengenommen können unter bestimmten Umständen an das, was durch die Arbeit zu verdienen ist heranreichen oder es gar übersteigen. Das untergräbt den Willen, wieder eine Beschäftigung aufzunehmen und ins Arbeitsleben zurückzukehren. Der Abstand zwischen Niedriglohngruppen und Sozialhilfe ist einfach zu klein. Ein Umbau des Sozialsystems, der dessen Kosten auf ein erträgliches Niveau zurückführt, ohne seine zentralen Leistungen und seine unverzichtbaren Schutzfunktionen aufzugeben, ist vor allem aus vier Gründen notwendig:
1. die Arbeitslosigkeit
2. die demographische Entwicklung
3. die eingebauten Systemfehler - sprich Aufgabendynamik und
4. die Veränderungen der Berufsarbeit.

Der Zwang zum Sparen, den die alte Regierungskoalition durchaus erkannt und umgesetzt hat, war im Grundsatz richtig, wenn auch wahlstrategisch riskant. Mit den bisher bekannt gewordenen Konzepten der neuen Bundesregierung wird das Ziel "Mehr Arbeit für Deutschland" nicht erreicht werden.

Reform ohne Alternative

"Es geht zunächst darum, soziale Sicherung weiterhin verläßlich zu garantieren und zu finanzieren. Aber die sozialen Sicherungssysteme müssen auch mehr Flexibilität ermöglichen und den Trend zu Individualität und Eigenverantwortung integrieren und fordern. Also Flexibilität und Sicherheit in der richtigen Mischung. Leere Kassen und die Notwendigkeit der wirklich Bedürftigen verbieten Verschwendung und Fehlversorgung. Diese Anforderungen können gleichzeitig nur gelöst werden, wenn in den einzelnen Sozialversicherungszweigen wieder vom unbezahlbar gewordenen Leitbild der Lebensstandardsicherung Abschied genommen wird. Das soziale Netz ist für den Notfall da, die Eigenverantwortung ist für den Normalfall da. Wer bisher, mit zunehmender Tendenz, den Notfall zum Normalfall machen will, entmündigt nicht nur den Bürger, sondern landet immer mehr in der Schuldenfalle. Jede Sozialpolitik kann immer nur den Einzelnen kurzfristig auffangen, die Marktwirtschaft aber muß sich dauerhaft selber helfen." Dieter Hundt, Präsident der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände.

Politik kann sich nur sozial nennen, wenn sie mit den von der Bevölkerung erwirtschafteten Mitteln sparsam und effizient umgeht, also die Anspruchsberechtigten und sozial Bedürftigen auch tatsächlich erreicht. Der deutsche Sozialstaat macht aber die Bürger unfrei, über ihre Einkommen selbst zu bestimmen, und erzieht sie zum Anspruchsdenken. Er ist zutiefst ungerecht, weil er seine Leistungen oft willkürlich und nicht selten an den wirklich Bedürftigen vorbei verteilt, und spätestens dies wird ihn auf Dauer ruinieren, denn gerecht zu sein gilt von jeher als ein oberstes Gebot.

Folgende Reformvorschläge könnten in der zukünftigen Debatte eine gewichtige Rolle spielen.

1. Rentenversicherung
Sie sollte schrittweise von einer Lebensstandardsicherung in eine Grundsicherung umgewandelt werden. Der Beitragssatz kann durchaus weiterhin je zur Hälfte von Arbeitgebern und Arbeitnehmern getragen werden. Dauerhaft sollte er unter 19 % beschränkt bleiben. Wie bisher sollte es bei dem Umlageverfahren bleiben, die Rente sich an den lohnbezogenen Beiträgen ausrichten. Die Beitragsbemessungsgrenze muß zunächst auf den heutigen Stand von monatlich 8400 DM eingefroren werden, so daß das Netto-Rentenniveau von 70 auf 64 % schrumpft. Darüber hinaus sollten die versicherungsfremden Leistungen weiter beschnitten werden. Die Regelaltersgrenze von heute 65 Jahren muß im Bedarfsfall der demographischen Entwicklung angepaßt werden. Alle beitragsfreien Anrechnungszeiten für die Ausbildung sind zu streichen.

2. Gesundheitswesen
Auch hier sollte ein Mischsystem aus gesetzlicher und privater Krankenversicherung eingeführt werden. Die gesetzliche soll die medizinisch notwendigen Leistungen abdecken. Die private Krankenversicherung ist für die anderen Leistungen zuständig. Ein weiteres Problem ist die Subventionierung der Krankenversicherung der Rentner jährlich von ca. 60 Milliarden DM durch die Arbeitnehmer und Betriebe. Dieser Betrag sollte durch Umfinanzierung gesenkt werden.

3. Förderung der Beschäftigung
Für viele Arbeitslose sind die Unterstützungsleistungen, die ursprünglich zur Überbrückung einer nur kurzen Phase von Erwerbslosigkeit vorgesehen waren, zur Dauereinrichtung geworden. Man muß sie deshalb auf eine aktive Hilfe zur Arbeit umstellen. Offensichtlich wurde bisher das Engagement und die Mitwirkung des Arbeitslosen nur unzureichend eingefordert.

4. Arbeitslosenversicherung
Sie muß zu einer Grundsicherung umgebaut, das Arbeitslosengeld unabhängig vom Familienstand einheitlich auf 60 % des früheren Nettoverdienstes festgesetzt und auf eine Dauer, wie bis 1987 gültig, von 12 Monaten beschränkt werden.

5. Arbeitslosenhilfe/Sozialhilfe
Die Arbeitslosenhilfe richtet sich nach der Zeit der Beschäftigung und des früheren Verdienstes und wird - wie die Sozialhilfe - unbefristet gewährt. Daher sollten beide zusammengefaßt werden. Anreize müssen vor allen Dingen für Arbeitslosenhilfeempfänger geschaffen werden, unter anderem durch eine höhere Anrechnung von durch Arbeit erzielbaren Einkommen. Darüber hinaus sind Eingliederungshilfen den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) vorzuziehen, da diese oft Arbeitsplätze des regulären Arbeitsmarktes verdrängen.

Fazit: Das Senken der Abgabenlast und das Zurückführen der Umverteilung ist kein Selbstzweck. Es sichert Investitionen und Beschäftigung und damit auch die finanzielle Basis des Sozialstaates. Durch die ständige Verteuerung von Arbeit sind arbeitsplatzschaffende Investitionen unattraktiv geworden.

Im internationalen Vergleich werden in Deutschland weit überdurchschnittliche Renditen erwirtschaftet. Inländische und ausländische Investoren werden dadurch abgeschreckt.

Der Umbau des Sozialstaates kann den Menschen zugemutet und sollte ihnen zugetraut werden. Denn die sozialen Sicherungssysteme sind in den letzten Jahrzehnten Stück für Stück zu umfassenden und lückenlosen Leistungssystemen ausgebaut worden. Dadurch fehlt es an der Konzentration der Leistungen auf das wirklich Notwendige. Eine Umkehr in diesem Sinne ist leider der jetzigen Regierungskoalition nicht zuzutrauen.


Eckhard Brüggemann (30.12.1998)



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