Ist die Politik gefordert?

In einer von beispielhafter Offenheit geführten Diskussion hat besonders Herr Kollege Schorre, 1. Vorsitzender der KBV, das Versagen der niedergelassenen Ärzteschaft, den eigenen Laden in Ordnung zu bringen, eingestanden. Auf dem Berliner Symposion "Angst vor dem Wandel" ist eine grundlegende Umsteuerung und Reform des ambulanten Versorgungssystems von allen Beteiligten gefordert worden: "Wir haben die falschen Anreize, so geht es nicht weiter. Notwendig ist eine neue und einfach Gebührenordnung. Die intern in gnadenlosen Verteilungskämpfen zerstrittene Ärzteschaft ist zu einer Reform nicht in der Lage. Ein Hauptproblem ist das Beharrungsvermögen und das Festhalten der Ärzte an einmal Erkämpftem. Wenn der eigene Bereich materiell tangiert wird, werden Veränderungen aus Angst, auf der Strecke zu bleiben, abgelehnt. Da aber eine "kollektive Vernunft" der Ärzteschaft fehlt, muß die Neuorientierung von der KBV-Führung erzwungen werden, selbst wenn sie dafür als Quittung abgewählt wird."

Fest steht, daß die Ärzteschaft seit Anfang der 70er Jahre die notwendigen Hausaufgaben nicht gemacht hat. Alle bis heute erfolgten Änderungen, besonders in der Allgemeinmedizin, sind Folge ausschließlich des Druckes der Politik auf die Ärzteschaft.

Parallel zu dieser Entwicklung ist es zu einer kontinuierlichen Entmachtung der ärztlichen Selbstverwaltung gekommen, wobei dieser Negativtrend keineswegs gebrochen ist. Die Ärzteschaft sägt an dem Ast, auf dem sie sitzt, munter weiter. Die interne Selbstparalyse ist offensichtlich durch Einsicht nicht zu therapieren. Deshalb glaubt der BDA an die Selbstheilungskräfte nicht mehr. Er geht davon aus, daß auch weiterhin die Politik einschreiten muß.

Die Gründe der gesamten Misere liegen auf der Hand:
- Überproduktion an Spezialisten durch die klinisch zentrierte Weiterbildung, bei gleichzeitigem Mangel an Allgemeinärzten;
- mangelnde Qualifikation vieler heute tätiger Hausärzte;
- Schisma der Hausärzte mit allgemeinmedizinischer bzw. internistischer Weiterbildung;
- Überangebot an spezialistischer Medizin für die Pathologie des Alltages;
- Übertechnisierung in den ambulanten Praxen mit entsprechender Leistungsvermehrung;
- doppeltes Angebot an Hochleistungstechnik in Klinik und Praxis;
- mangelnde Koordination des Patientenflusses und damit ständige Ressourcenvergeudung durch Lösung oder oft auch nicht Lösung des Patientenproblems auf der falschen Ebene (viel Diagnostik, wenig Gespräche);
- mangelnde Koordination und Kooperation zwischen den Hausärzten, den niedergelassenen Spezialisten sowie Praxis und Klinik;
- falsche Anreize über die Gebührenordnung medizinisch nicht notwendige Leistungen zu erbringen und abzurechnen. Dies trifft vor allem auf das durch Stammtischkartelle getrimmte Abrechnungsverhalten einiger Spezialistengruppen zu.

Da es auch aus Sicht des BDA an einer "kollektiven Vernunft" mangelt, muß entweder die KBV-Führungscrew - auch auf die Gefahr abgewählt zu werden - eine strukturelle Neuorientierung in den wichtigsten Bereichen der ambulanten Versorgung durchführen:
- Die größten Rationalisierungsreserven liegen in einem modifizierten Primärarztsystem, in dem der Hausarzt der Casemanager der Patienten wird.
- Die letzten Entscheidungen von Politik und Ärzteschaft bezüglich der Allgemeinmedizin sind nachhaltig zu unterstützen. Die Richtung stimmt.
- Die Verzahnung von Hausärzten, Spezialisten und Klinikambulanzen muß auf allen Ebenen gefördert werden.
- Die Gebührenordnung muß gestrafft werden, wobei die Hausärzte mehr mit Komplexen, die Spezialisten - wegen der größeren Homogenität - mehr mit Pauschalen abrechnen sollten. Dies steht in diametralem Gegensatz zum bisherigen EBM-Neuentwurf. Dies ist auch der Grund, warum der BDA diesen Entwurf in der Vertreterversammlung der KBV abgelehnt hat.
- Die historische Fehlentwicklung bei der Verteilung des Geldes muß zugunsten aller Basisversorger korrigiert werden. Dies entspricht dem Versorgungsbedarf der Bevölkerung.

Fazit: Es ist ein gesellschaftspolitischer Skandal, daß die medizinische Betreuung der chronisch kranken und altersschwachen, gebrechlichen Menschen zugunsten einer privilegierten Höchstleistungsmedizin finanziell ausgetrocknet wird. Eine angemessene Medizin ist nur noch durch Selbstausbeutung der Hausärzte möglich, da die Hausarztpraxis nur durch "leichte Fälle" (Verdünnerscheine) ökonomisch zu führen ist. Fallen diese als Folge der Chipkarte weg, werden die betreuungsintensiven schwerkranken oder ans Haus gebundenen alten Menschen zu einer finanziellen Last. Wollen wir Ärzte das? Will dies die Gesellschaft?

Diese fatale Situation der Hausärzte hat sowohl die Struktur- als auch die Gebührenordnungsreform zu berücksichtigen.

Sollte es wieder nur zu einer innerärztlichen Symptomkuriererei reichen, wird der BDA keine Sekunde zögern, erneut den Gesetzgeber auf den Plan zu rufen, damit dieser die Dinge im Sinne einer vernünftigen und bezahlbaren Medizin für unsere Bevölkerung ordnet.


Eckhard Brüggemann (16.6.98)



Senden Sie Ihren Diskussionsbeitrag an Dr. Eckhard Brüggemann zur Veröffentlichung.

Zum Inhaltsverzeichnis