Staatliche Rentenversicherung und Gesetzliche Krankenversicherung: Ende der Wunschträume
Vorweg etwas zur historischen Entwicklung der Sozialversicherungssysteme.
1883 wurde die Krankenversicherung im damaligen Deutschen Reich eingeführt, 1884 die
gesetzliche Unfallversicherung, 1889 die gesetzliche Rentenversicherung der Arbeiter, 1911 die
gesetzliche Rentenversicherung der Angestellten, 1923 die Knappschaftsversicherung, 1927 die
Arbeitslosenversicherung, 1994 die Pflegeversicherung. Dazu kommen Berufsunfähigkeitsrente,
Sozialhilfe, Kindergeld, Erziehungsgeld, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall usw. Allen diesen
gesetzlichen Versicherungen liegt das Prinzip der Solidarität und nicht der Subsidiarität zugrunde.
Das bedeutet, daß der Einzelne nicht nach seinem eigenen Vermögen sich absichern muß, sondern
daß der Staat den Bürger über eine staatliche Zwangsversicherung entmündigt. Besonders auffällig
ist dies in der Gesetzlichen Krankenversicherung, weil hier mittlerweile 90 % der Bevölkerung in einer
rigiden staatlichen Zwangsversicherung mit staatlich verordnetem Leistungsspektrum erfaßt werden,
welches jederzeit per Dekret geändert werden kann. Dies erfolgt seit Jahren in immer kürzeren Abständen.
Der Arzt, der in diesem System tätig ist - das sind weit über 90 % aller Ärzte - hat notwendigerweise in
diesem System seine Freiberuflichkeit aufgegeben. Dies hatte zur Folge, daß er für seinen Betrieb Praxis
wie ein Unternehmer bis zum bitteren Ende zwar haften muß - also Konkurs gehen kann -, aber bei den
Einnahmen rigide begrenzt wird. Von einem freien Wettbewerb kann überhaupt keine Rede mehr sein.
Die sozialen Sicherungssysteme - und hier besonders die Renten- und Krankenversicherung - sind aus vielerlei
Gründen unbezahlbar geworden. Die wichtigsten Faktoren, die zu dieser Entwicklung geführt haben, sind
1. die Frühverrentung,
2. die demographische Entwicklung mit zunehmender Überalterung der Bevölkerung,
3. die über 6 Millionen Arbeitslosen und
4. die Überfrachtung der sozialen Systeme mit immer neuen Fremdleistungen,
5. Subsidiarität geht nicht mehr vor Solidarität.
Es sind - und das sage ich hier unumwunden - radikale und grundlegende Korrekturen notwendig, für deren
Durchsetzung ich bei den beiden großen Volksparteien auch zur Zeit noch wenig Erfolgschancen sehe. Diese
radikalen Einschnitte wären jedoch für solidarischen Frieden unter den Generationen deshalb so wichtig, weil
unsere Gesellschaft seit ca. Mitte der 70er Jahre, als die damalige sozialliberale Koalition die Dämme gegen
unberechtigte Inanspruchnahme der sozialen Sicherungssysteme weitestgehend planiert hatte, auf Kosten
der kommenden Generation in Wohlstand und Bequemlichkeit lebt und sich drohnenhaft häuslich eingerichtet
hat, indem die Staatsverschuldung exorbitant gestiegen ist und weiter steigt. Die arbeitende Bevölkerung
selbst zeigt mangelnde Flexibilität in allen Lebensbereichen, staatliche Absicherung aller Risiken haben
Deutschland saturiert und träge gemacht. Wie kommen wir aus diesem Dilemma heraus? Sicherlich nicht mit
den Schlagwörtern der ewig Gestrigen und Besitzstandswahrer, die da lauten:
- Zwei-Klassen-Medizin
- Zerschlagung des Solidarsystems
- Abbau des Sozialstaates
- Bestrafung der Kranken
- Bewahrung der Pfründe der Leistungserbringer, wobei vornehmlich Ärzte und die Pharmaindustrie gemeint sind
(siehe Aussage von Herrn Dressler von der SPD vom 20.03.1997: "Der Pharmaindustrie und den Ärzten werden
Millionen von DM auf Kosten der Versicherten zugeschanzt.")
Dieser Kreis kennt nur das Rezept: Man nehme ein Globalbudget, schröpfe die Besserverdienenden und
natürlich die Leistungserbringer, und schon sind alle Probleme gelöst.
"Übrigens, wir Hausärzte sind keine Besserverdiener sondern Vielmalocher!"
Im Grunde ist alles ganz einfach. Vor 35 Jahren war ein Sechstel der Bevölkerung älter als 60 Jahre, heute
ist es ein Fünftel und in 35 Jahren wird es reichlich ein Drittel sein. Innerhalb eines Menschenalters wird sich
also der Altenanteil mehr als verdoppelt haben. Um dieser Veränderung im Rahmen der gesetzlichen
Rentenversicherung zu entsprechen, kann theoretisch an vier Steuerschrauben gedreht werden:
1. Das Renteneintrittsalter wird erhöht. Da muß zuvor die Arbeitsmarktlage nachhaltig gebessert werden; oder
2. das Rentenniveau wird gesenkt, dann werden viele Rentner zu Sozialhilfeempfängern; oder die Beiträge
der Aktiven werden erhöht, dann verliert der Faktor Arbeit ob steigender Lohnzusatzkosten weiter an
Wettbewerbsfähigkeit gegenüber Kapital und ausländischen Arbeitskräften; oder der Bundeszuschuß wird
weit über die Finanzierung der sogenannten versicherungsfremden Leistungen hinaus angehoben, dann nimmt
statt der Beitragslast die Steuerlast weiter zu. Schließlich kann auch an allen vier Steuerschrauben gleichzeitig
gedreht werden. In ähnlicher Form gilt das Ganze für die Gesetzliche Krankenversicherung. Entweder können
die Beitragssätze angehoben werden, oder es kommt zu Leistungskürzungen und gar zu Leistungsrationierungen,
oder die Leistungseffizienz wird im ambulanten wie auch im stationären Sektor erheblich angehoben.
Doch wo immer gedreht wird, das eigentliche Problem läßt sich dadurch nicht lösen, denn so oder so verschlechtert
sich das Beitrags-Leistungs-Verhältnis dermaßen, daß die Akzeptanz der gesetzlichen Alterssicherung und
Krankenversicherung zumindest bei denen schwindet, auf die es allein ankommt - den Finanziers, den
Beitragszahlern. Schon in wenigen Jahren wird die bundesrepublikanische Bevölkerung begriffen haben,
daß die Renten- und Krankenversicherung ein schlechtes Geschäft ist. Spätestens dann werden sich die
abhängig Beschäftigten dem System massiv verweigern durch noch mehr Schwarzarbeit, geringfügige
Beschäftigung, Scheinselbständigkeit und weitere Tricks und Kniffe, an die heute noch kein Mensch
denkt. In einem freiheitlich-demokratischen Gemeinwesen ist es schwer, wenn nicht gar unmöglich, gegen
solchen Exodus Dämme zu errichten.
Die künftigen Arbeitnehmer und Rentner müssen sich deshalb darauf einstellen, daß die Quellen staatlicher
Versorgung immer schwächer sprudeln werden. Die Lösung für beide Versicherungsarten ist im Grunde auch
wieder ganz einfach, aber unpopulär und unbequem. Unpopulär sind sie, weil notwendigerweise eingeforderte
Eigenverantwortung und Eigenversorgung auch eine stärkere finanzielle Beteiligung des Einzelnen erfordert und
unbequem, weil die Stärkung der Selbstverantwortung die Übernahme von Verantwortung bedeutet.
Wir alle kommen an einer Neubestimmung der individuellen Verantwortung nicht vorbei.
Globalbudgets, Positivliste, Einkaufsmodelle und Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze für Versicherte helfen
bei der Lösung der anstehenden Problem nicht.
Die gesetzlichen Alters- und Krankenversicherungen müssen zügig auf eine Grundsicherung herabgeschleust
werden, dann können diejenigen, die mit einer solchen Grundsicherung vorlieb nehmen, sich entspannt
zurücklehnen und ihre gesamten Einkünfte ausgeben.
Alle anderen, die einen zumindest durchschnittlichen Lebensstandard aufrecht erhalten wollen, müssen eben
stärker als bisher für ihr Alter und ihre Krankheit individuell vorsorgen und konkret auf einen größeren Teil ihres
Konsums verzichten und dafür in vielfältigen Formen zusätzlich investieren. Alles andere sind Wunschträume,
und diese bestimmen nach wie vor die Politik.
Ich darf noch einen Satz hinzufügen: Des weiteren sollten folgende Bereiche aus der staatlichen
Zwangsversicherung in eine private Absicherung überführt werden:
1. Lohnfortzahlung im Krankheitsfall
2. Pflegeversicherung
3. Berufsunfähigkeit
4. die Wegeunfälle der Berufsgenossenschaft
5. Schülerunfallversicherung.
Lassen Sie mich mit ein paar Ausführungen aus einem Aufsatz von Ludwig Erhard aus dem
Jahre 1956 enden: Ich zitiere wörtlich:
"Da die erreichte Größenordnung der Einkommensübertragungen über die Sozialhaushalte keineswegs
mehr eine quantité negligeable ist, sondern einen gewichtigen Faktor im Wirtschaftsprozeß darstellt,
besteht heute eine teilweise recht enge Interdependenz zwischen Wirtschaftspolitik und Sozialpolitik.
Die Sozialpolitik muß daher mit der Wirtschaftspolitik abgestimmt sein, d.h. die volkswirtschaftliche
Produktivität darf dadurch nicht beeinträchtigt und den Grundprinzipien der marktwirtschaftlichen
Ordnung muß sie entsprechen. Wenn wir eine freiheitliche Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung
auf die Dauer aufrecht erhalten wollen, ist es in der Tat eine Grunderfordernis, neben einer
Wirtschaftspolitik, die dem Menschen wieder zu seinen persönlichen Freiheiten verholfen hat,
auch eine gleichermaßen freiheitliche Sozialpolitik zu betreiben. Es widerspricht der marktwirtschaftlichen
Ordnung, die die Entscheidung über Produktion und Konsum dem Einzelnen überläßt, die private Initiative
bei der Vorsorge für die Wechselfälle und Notstände des Lebens auch dann auszuschalten, wenn der
Einzelne dazu fähig und gewillt ist, selbstverantwortlich und eigenständig vorzusorgen. Wirtschaftliche
Freiheit und totaler Versicherungszwang vertragen sich nicht. Daher ist es notwendig, daß das
Subsidiaritätsprinzip als eines der wichtigsten Ordnungsprinzipien für die sozialen Sicherungen
anerkannt und der Selbsthilfe und Eigenverantwortung so weit möglich, der Vorrang eingeräumt ist.
Der staatliche Zwangsschutz hat demnach dort halt zu machen, wo der einzelne und seine Familie
noch in der Lage sind, selbstverantwortlich und individuell Vorsorge zu treffen. Die totale
Zwangsversicherung und der Versorgungsstaat sind naturgemäß besonders geeignet, dem Wagemut,
das Leistungsstreben, die Bereitschaft zu freier Spartätigkeit, die persönliche Initiative und das
Verantwortungsbewußtsein mehr und mehr zu lähmen, ohne die eine freiheitliche Wirtschafts- und
Gesellschaftsordnung nicht existieren kann. Wachsende Sozialisierung der Einkommensverwendung
und umsichgreifende Kollektivierung der Lebensplanung, weitgehende Entmündigung des Einzelnen
und zunehmende Abhängigkeit vom Kollektiv oder vom Staat, aber auch die Verkümmerung eines
freien und funktionsfähigen Kapitalmarktes, der Voraussetzung für die Expansion und Stabilität der
Marktwirtschaft ist, währen die Folge dieses gefährlichen Weges, an dessen Ende der "soziale Untertan"
und die bevormundende Garantierung der materiellen Sicherheit durch den allmächtigen Staat sowie die
damit verbundene Lähmung des wirtschaftlichen Fortschritts in Freiheit stünde. Denn eine freiheitliche
Ordnung kann auf die Dauer nur bestehen, wenn auch im sozialen Sektor ein Höchstmaß an Freiheit,
privater Initiative und Selbsthilfe geleistet wird."
Die Bundesrepublik Deutschland hat sich von diesen Einsichten seit 40 Jahren kontinuierlich entfernt.
Ein Sündenfall, den es grundsätzlich zu korrigieren gibt.
Die Politiker und Entscheidungsträger sollten sich die Kernaussage eines Buches zu eigen machen,
welches sich mit dem Untergang der Weltreiche beschäftigt: "Im Luxus erlahmt die Leistung. Dem
Glanz folgt der innere Niedergang, bis auch das äußere Glück verloren ist. Ein tröstlicher Gedanke,
denn jedes Staatsvolk zimmert seinen eigenen Sarg. Keines der großen Reiche war daher von Dauer.
Das Gesetz, nach dem die Weltreiche angetrieben waren, besiegelte auch ihren Untergang." Dies
gilt - so scheint es mir - auch für unsere Sozialsysteme.
Eckhard Brüggemann (15.2.97)
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